In der Corona-Krise wird wild über Statistiken, Kurven oder Studien diskutiert, genauso wie über Schließungen und Lockerungen im täglichen Leben. Das hat alles seine Berechtigung, ist notwendig, aber eben gegenwartsfixiert. Ich würde gerne auch stärker eine politische Debatte darüber führen, wie die Krise gemeistert werden kann und welche Erkenntnisse auch nach der Krise die Politik bestimmen sollten. Dazu einige Gedanken: Die in der Krise sichtbar gewordene Rückbesinnung auf einen starken und handlungsfähigen Staat sowie das gesellschaftliche Prinzip der Solidarität sind für die Zeit nach der Krise unbedingt zu erhalten. Es zeigt sich, dass schwache Staaten kaum in der Lage sind, auf solche Krisen zu reagieren. Kaputtgesparte Gesundheitswesen kollabieren schon bei einem leicht überdurchschnittlichen Anstieg der Patientenzahlen. Das alles kommt nicht von ungefähr, sondern ist politisch und ideologisch so seit Jahrzehnten betrieben worden, mal schlimmer, mal etwas weniger schlimm. Man wird es am Ende, so traurig das ist, vielleicht an den Todesraten ablesen können. Mancher sollte heute besser schweigen.

Genauso endet der verabsolutierte Individualismus, wenn meine eigene Gesundheit vom solidarischen Verhalten des anderen abhängt und umgekehrt. Man erfährt die gesellschaftliche Verantwortung des eigenen Ichs. Das ist eigentlich keine neue Erkenntnis, doch durch die Krise wird es offensichtlich und für manchen ist es vielleicht doch neu: Nur solidarisch lässt sich das Leben meistern. Nur Solidarität ermöglicht dem Einzelnen Freiheit und Selbstbestimmung.

Ich möchte zehn politische Maßnahmen gegen und infolge von Corona in die Diskussion werfen und freue mich über Reaktionen:

 

1.) Einen echten sozialen Rettungsschirm aufspannen durch eine Erhöhung des Kurzarbeitergeldes auf mindestens 80%, damit man auch von diesem Einkommen leben kann. Bei vielen ist es schon mit dem kompletten Einkommen schwer, bis zum Monatsende zu kommen. Es ist sinnvoller, auf diese Weise Arbeit zu finanzieren als Arbeitslosigkeit. Durch eine Verlängerung der Bezugsdauer von Arbeitslosengeld I verhindern wir, dass alle, die jetzt dennoch ihren Job verlieren, schnell abrutschen. Gleichzeitig sollten wir Sanktionen abbauen, Regelsätze für das Arbeitslosengeld II erhöhen und gleichzeitig individuell passende Weiterbildungsangebote machen. Nicht gängeln, sondern unterstützen. Wer durch die Krise sein Einkommen verliert, muss wissen: Der Aufschwung kommt wieder und solange sind wir bedingungslos solidarisch.

2.) Das Gesundheitssystem umfassend reformieren und ausreichend finanzieren. Schluss mit der Ökonomisierung im Gesundheitswesen. Falsches Sparen gefährdet Menschenleben. Krankenhäuser etc. – auch in der Fläche – sind staatliche Daseinsvorsorge und kein Gut, das dem Markt überlassen werden kann. Abrechnungssysteme dürfen keine Fehlanreize setzen. Pflegeberufen müssen endlich angemessen bezahlt werden. Das Zweiklassensystem mit privater und gesetzlicher Krankenkasse ist in eine allgemeine solidarische Bürgerversicherung zu überführen, in die alle einzahlen und in der Leistungen gleichermaßen, angemessen und nach wirklichem Bedarf ausgezahlt werden.

3.) Um die Wirtschaft wieder anzukurbeln sind umfassende staatliche Investitionsprogramme notwendig, die bestenfalls am staatlichen Bedarf (etwa Sanierung unserer maroden Infrastruktur) ausgerichtet sind. Dabei lassen sich Investitionen auch unter Zielsetzungen für Nachhaltigkeit und Klimafreundlichkeit steuern. Deutschland wird als Exportland nur aus der Krise kommen, wenn auch die anderen EU-Staaten aus der Krise kommen. Nicht nur deshalb braucht es europäische Solidarität, EU-weite Sozialsicherungssystem und eine gemeinsame aktive Wirtschaftspolitik, vor allem auch mit „deutschem“ Geld. Wer jetzt geizt oder wieder auf Austerität setzt, wird die politische und wirtschaftliche Rechnung später nicht mehr bezahlen können. Dabei braucht es ein nachhaltiges und gerechtes Wachstum und keine verträumten Post-Wachstums- und Grundeinkommensideologien.

4.) Die Binnennachfrage muss gerade bei den unteren Einkommensgruppen gestärkt werden, deren Einkommen zu großen Teilen direkt in Konsum investiert wird, um die Konjunktur anzukurbeln. Dazu braucht es z.B. passgenaue Entlastungen von Steuern und Abgaben oder höhere staatliche Leistungen, aber keine Gießkannen-Steuergeschenke für Superreiche, wie etwa die Soli-Abschaffung für das allerreichste Zehntel.

5.) Für Selbstständige und Unternehmen, die auf lange Sicht keine Einnahmen mehr erwirtschaften können, weil ihr Geschäft aufgrund der Pandemie entfallen muss (Veranstaltungstechnik, Clubs, Schausteller usw.) muss es staatliche Überbrückungsunterstützung geben, damit möglichst viele Betriebe über die Krise gerettet werden können. Diese Programme können zielgenauer gestaltet werden als die ersten Soforthilfeprogramme. Vor allem kleine und mittlere Betriebe müssen in den Blick, wenn sich der Markt nach der Krise nicht auf wenige Großunternehmen und -konzerne, die größere Rücklagen haben, beschränken soll. Das wäre fatal.

6.) Die Kommunen brauchen einen Rettungsschirm, weil ihnen hohe Einnahmen wegfallen werden. Dies darf nicht zu einem unverhältnismäßigen Abbau kommunaler Leistungen führen. Kurz: Es darf kein Schwimmbad und kein Jugendzentrum wegen Corona (dauerhaft) geschlossen werden. Wenn die ohnehin unterfinanzierten und überschuldeten Kommunen auf Jahre keine Gestaltungsspielräume mehr haben, ist das das beste Konjunkturpaket für Populisten und Extremisten und eine direkte Gefährdung für die Demokratie und die Chancengleichheit der Menschen.

7.) Die Katastrophenschutzszenarien müssen EU-weit umfassend und koordiniert überarbeitet werden, damit man auf pandemische Entwicklungen künftig besser vorbereitet ist. Das fängt bei der personellen Ausstattung von Gesundheitsämtern an und hört bei der Beschaffung von notwendigen Schutzmaterialen auf. Produktionen für solche Materialen muss es auch in Deutschland geben, damit die Abhängigkeit vom Weltmarkt, der in der Krise versagt, reduziert wird.

8.) Es braucht eine Sofort-Strategie für Digitalisierung. Wenn Gesundheitsämter Daten noch durch das Land faxen, stimmt etwas nicht. Es werden unzählige Beispiele deutlich, wo Dinge nicht effizient genug sind, weil die digitalen Möglichkeiten nicht ausgeschöpft sind. Wichtige Daten, die zur Steuerung der Pandemie notwendig wären, liegen gar nicht vor, weil es kein umfassendes und einheitliches System der Datenübermittlung gibt. Viele Menschen können nicht im Homeoffice arbeiten, weil keinerlei Voraussetzungen geschaffen wurde. Menschen auf dem Land sind von Video-Konferenzen abgeschnitten, weil kein schnelles Internet verfügbar ist. Auch die Voraussetzungen für digitales Lernen sind ungerecht verteilt. Alle Schüler*innen brauchen eine persönliche technische Ausstattung, die der Staat garantieren muss.

9.) In der Krise bekommen manche ganz konkret endlich mal ihr Privilegiert-sein vor Augen geführt. Es kriselt sich besser im Homeoffice auf der Terrasse der schicken Altbauwohnung als nach der Schicht im Supermarkt in der engen Bude mit Kindern, aber ohne Balkon. Es ist auch nicht richtig, dass vor dem Virus alle gleich sind. Privilegierte können der Ansteckung viel besser aus dem Weg gehen und haben, zumindest global betrachtet, einen leichteren Zugang zu medizinischer Versorgung. Man sollte diese Erkenntnis nutzen, um endlich etwas gegen die massive gesellschaftliche Ungleichheit zu unternehmen. Konkret könnte man damit anfangen, dass systemrelevante Berufe auch systemrelevant bezahlt werden.

10.) Die Finanzierung der teuren Maßnahmen muss über neue Schulden erfolgen, die Refinanzierung über eine gerechtere Vermögensverteilung. Die Besteuerung von höchsten Einkommen, enormen Vermögen und großen Erbschaften ist in Deutschland unterdurchschnittlich. Das kann man sich in dieser Situation nicht leisten, wenn am Ende nicht wieder die Falschen die Rechnung zahlen sollen. Starke Schultern müssen mehr tragen, weil sie breit genug sind, um das zu können. Auch das ist Teil der Solidarität, weil sich ein kollabierendes Wirtschafts- und Sozialsystem auch der Reichste nicht leisten kann. Ob das dann am Ende über eine Vermögenssteuer, eine Abgabe, eine höhere Spitzen- oder Erbschaftsteuer gelingt, ist letztlich eine technische Frage, die diskutiert werden sollte.

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